Prof. Volker Reinhard, Universität Freiburg/CH
Jean-Baptiste Girard lebte von 1765 bis 1850. In diesen knapp fünfundachtzig Jahren erlebte die Geschichte Europas und der Schweiz mehr tief greifende Veränderungen als jemals zu vor – die historische Zeit schien sich nachgerade zu verflüssigen, so der Eindruck vieler Zeitgenossen. Umso intensiver forschten die besten Geister nach dem, was Mensch und Welt zusammenhielt; die Erfahrung des Wandels drängte nach unveränderlichen Wahrheiten. Gab es sie in der Natur des Menschen? Rousseau hatte das wenige Jahre vor Girards Geburt in seinem Roman „Emile oder über die Erziehung“ behauptet: der Mensch geht aus den gütigen Händen des göttlichen Weltenschöpfers gut hervor und wird als Folge der Entfremdung, die die übers Ziel hinaus geschossene Zivilisation verursacht hat, schlecht. Aufgabe der Pädagogik ist es also, diese zerstörerischen Einflüsse rückgängig und den Menschen wieder gut zu machen.
Einen Erziehungsauftrag schreiben sich auch die Obrigkeiten der alten, dreizehnörtigen Eidgenossenschaft zu, in die Girard hinein geboren wird. In seinem Geburtsort Freiburg i. Ue. wie auch in den anderen Stadt- und Landrepubliken, die den lockeren Verbund des „Corpus Helveticum“ beherrschen, regieren Patriziate, die sich als adelig verstehen und einen entsprechenden Lebensstil pflegen: als Offiziere in französischen Solddiensten und in den diversen Ämtern der Republiken, die den Abkömmlingen der privilegierten Geschlechter vorbehalten sind; im ländlichen Untertanengebiet arbeiten diese als Landvögte mit dörflichen Sekundäreliten zusammen. Dabei pocht die ländliche Bevölkerung ihrerseits auf altes Recht und daraus resultierende Freiräume – ein stets gefärdetes Gleichgewicht, das sich in Freiburg schon einige Jahre vor der Französischen Revolution im sogenannten Chenaux-Aufstand als brüchig erweist. Der Export der Revolution von Frankreich in die Schweiz bewirkt – so scheint es auf den ersten Blick – 1798 einen völligen Umsturz der alten Verhältnisse: Aus ehemaligen Untertanengebieten werden gleichberechtige neue Kantone, aus einer losen Föderation entwickelt sich ein Zentralstaat, aus dreizehn Oligarchien erwächst eine männliche Wahlrechtsdemokratie, die ihren Bürgern gleichwohl kein volles Vertrauen entgegen bringt - die endgültige Auswahl der Amtsträger nehmen nicht die Wähler, sondern von diesen bestimmte Wahlmänner vor. Vor allem aber ist die neue Helvetische Republik ein Erzie-hungs-Staat, der den Menschen zu seinem Glück veredeln möchte; statt ständischer Arroganz und Eigennutz möchte man ihm Bürgersinn, Patriotismus und Kosmopolitismus zugleich einpflanzen. Solche Sätze zieren sogar die Verfassung vom Frühjahr 1798. Um dieses große Werk auf den Weg zu bringen, entwickeln der „Bildungsminister“ Stapfer und sein wichtigster Mitarbeiter Pestalozzi kühne Pläne für eine umfassende Primarschulerziehung, die die bislang unausgeschöpften Reservoire der Begabung in den unteren Schichten erschliessen soll; und eine neue (nie geschaffene) Nationaluniversität soll den schweizerischen Nationalgeist als Kombination der jeweils besten Elemente Deutschlands, Frankreichs und Italiens zu einer Einheit formen. Gegnerschaft, ja Feindschaft wittert die Helvetische Republik vor allem in der Katholischen Kirche, denn diese verliert nicht nur ihre Sonderstellung als Staat im Staat, sondern auch ihren Einfluss auf die Erziehung und viel von ihrem Besitz. Nur wenige aufgeklärte Geistliche sind daher wie Girard zur Mitarbeit an diesem neuen Staat bereit.
1803 ist die Helvetische Republik gleichwohl am Ende – der Widerstand der unteren Bevölkerungsschichten, die innere Zerstrittenheit der Führungsschicht sowie die Ausbeutung durch die französischen Besatzer und unaufhörliche Kriege haben sie diskreditiert. 1803 vermittelt der französische Machthaber Napoleon Bonaparte daher die sogenannte Mediation, ein politisches System, in dem die Souveränität wieder auf die Kantone übergeht – eine Entwicklung, die sich nach seinem Sturz und durch die nachfolgende Restauration von 1815 weiter verstärkt. Doch diese restaurative Kehrtwende bringt zwar in den meisten Kantonen die alten Eliten zurück an die die Macht, die sie sich ab 1798 mit neu aufgestiegenen Familien teilen mussten, doch fällt sie insgesamt weniger reaktionär aus als in den meisten anderen Ländern Europas. Das liegt daran, dass die Mehrheit der führenden Intellektuellen liberal ein-gestellt ist und mit ihnen die öffentliche Meinung. Diese Kräfte erzwingen schon ab 1830 eine weit reichende politische „Regeneration“. 1847 siegen die „freisinnigen“ Kantone im Sonderbundskrieg über die katholisch-konservativen Orte, worauf der Neukonstitutierung der Schweiz als parlamentarischer Bundessstaat mit siebenköpfigem Bundesrat nichts mehr im Wege steht. Die Aussöhnung zwischen überwiegend reformiertem Liberalismus und den kon-servativen Kräften der Innerschweiz und Freiburgs aber lässt noch einige Jahrzehnte auf sich warten.